Demokratie und Meinungsfreiheit

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Fast 80 Prozent der Deutschen trauen sich nicht, zu bestimmten Themen offen ihre Meinung zu sagen. Menschen werden aufgrund ihrer Meinung aus ihrem Job gemobbt, von Veranstaltungen ausgeladen oder sogar körperlich angegriffen; Verlage werden gedrängt, sich von Autoren zu trennen. Zum Fallstrick werden kann mittlerweile fast alles: alberne Witze, unüberlegte „Likes“, sogar völlig sachlich vorgetragene Kritik an der Regierungspolitik.

Nancy Faeser (Innenministerin/SPD) hat eine ganz eigene/eigenwillige Definition von Meinungsfreiheit:

„Meinungsfreiheit endet dort, wo andere beleidigt werden, betroffen sind, verletzt werden.“

Nachfolgend bringen wir einen Auszug aus dem 3. Teil des Buches von Kolja Zydatiss „Cancel Culture – Demokratie in Gefahr“.


Seit einiger Zeit wird das Ausgrenzen zumeist kontroverser aber rechtlich von der Meinungsfreiheit gedeckter Äußerungen auch als Cancel Culture bezeichnet.

Die Debatte um die Cancel Culture ist Teil eines breiten Kulturkampfes um die „Seele“ westlicher Gesellschaften, der bereits seit einigen Jahrzehnten tobt. (…)

Zur Demokratie haben die tonangebenden „progressiven“ Kreise ein gespaltenes Verhältnis. Einerseits sind die faschistischen Regime für sie der wichtigste negative Orientierungspunkt, und diese Regime waren natürlich alles andere als demokratisch. Andererseits fürchten sie, dass gerade die Ausübung demokratischer Rechte durch die „rückständigen“ Massen solche rechten Diktaturen herbeiführen könnte (oder zumindest eine irgendwie „rechts-konservative“ Politik, was zunehmend mit „Faschismus“ gleichgesetzt wird – eine ungeheuerliche Verharmlosung des Letzteren). So ist es zu einer Situation gekommen, in der die Demokratie zwar ständig rhetorisch beschworen, aber praktisch immer mehr ausgehöhlt wird.

Wenn die linksliberalen Eliten „Demokratie“ sagen, meinen sie oft eher ziemlich rigide Rechtsnormen, die den Minderheitenschutz und andere „fundamentale Werte“ vor den Wählern schützen sollen. So kommt es z. B., dass das Vorgehen demokratisch nicht legitimierter EU-Instanzen gegen demokratisch gewählte Regierungen in Osteuropa, u. a. weil diese die „falsche“ Asylpolitik verfolgen und ein klassisches Familienbild hochhalten, als Verteidigung der (liberalen) Demokratie gefeiert wird.

„Rechts“ äußerst großzügig definiert

Oft wird „Demokratie“ auch synonym mit „Kampf gegen Rechts“ verwendet, wobei „Rechts“ äußerst großzügig definiert wird und manchmal geradezu orwellsche Begriffsumdeutungen stattfinden. So bezeichnete z. B. Sonja Thomaser, Kolumnistin bei der Frankfurter Rundschau, die mutmaßlich rechtswidrigen“ Antifa-Randale, die im Herbst 2019 zum Abbruch einer Lesung mit dem früheren Bundesminister Thomas de Maizière führten, als ,,zivilgesellschaftlichen Protest“ von demokratisch organisierten Kräften. Die islam- und migrationskritischen Demonstrationen von Pegida, die in Deutschland, wie in jeder anderen liberalen Demokratie, vom Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gedeckt sind, sind für Thomaser hingegen „tatsächlich demokratiefeindliche Aktionen“.

Demokratie bedeutet Volksherrschaft

Aber Demokratie bedeutet eben nicht zwingend Buntheit, Weltoffenheit oder Ähnliches, und schon gar nicht bedeutet sie, Gewalt gegen missliebige bürgerlich-konservative Politiker auszuüben. Demokratie bedeutet Volksherrschaft. Volk hat dabei nichts mit Abstammung oder Herkunft zu tun.

Das Volk sind, wie es die Politologin Ingeborg Maus ausdrückt, die „Nicht-Experten und Nicht-Funktionäre“, denen die gewählten Politiker Rechenschaft schulden und von denen sie auch wieder abgewählt werden können. Demokratie erfordert, wie die Autoren des Buches „Experimente statt Experten“ (2019) schreiben: „[…] dass alle erwachsenen Bürger die Möglichkeit haben, sich zu beteiligen. Dass echte, sich klar voneinander unterscheidende und realisierbare Alternativen zur Wahl stehen. Dass die Menschen die Möglichkeit haben, sich zu informieren, und motiviert sind, sich ernsthaft mit der jeweiligen Frage zu beschäftigen. Und dass ihre Mehrheitsentscheidung auch umgesetzt wird.“[i]

Als Demokrat muss man damit leben können, dass politische Entscheidungen getroffen werden, die einem persönlich nicht passen.

Als Demokrat muss man akzeptieren, dass sich öffentliche Auseinandersetzungen stets in die eine oder die andere Richtung entwickeln können. Wenn es bei jedem Thema bereits eine „richtige“ Antwort gäbe, bräuchte es ja keine Debatten, Wahlen oder Abstimmungen. Als Demokrat muss man außerdem damit leben können, dass ständig politische Entscheidungen getroffen werden, die einem persönlich nicht passen. Natürlich werden die meisten Menschen von Natur aus dazu neigen, zu sagen „Ich bin für die Demokratie, aber. . .“, denn fast jeder hat irgendwelche Themen, bei denen er befürchtet, dass die Mehrheit die „falsche“ Entscheidung treffen könnte und deshalb lieber nicht befragt werden sollte. Aber wenn wir die Demokratie wirklich ernst nehmen wollen, sollten wir diese „Abers“ verbannen. Um es mit einer schlichten Tautologie zu sagen: Für Demokratie ist nur, wer wirklich für Demokratie ist!

… weil sie dem Volk nicht trauen.

Aktuell sind es, wie gesagt, vor allem die sich linksliberal verstehenden Kreise, die mit der „echten“ Demokratie (also einer wirklichen Volksherrschaft im Sinne der obigen Definition) hadern, weil sie dem Volk bei vielen Themen nicht trauen. Diese Kreise werden lernen müssen, dass auch als (rechts)konservativ geltende Positionen, etwa die Befürwortung einer sehr restriktiven Einwanderungspolitik oder der rechtlichen Ungleichbehandlung von heterosexuellen und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, zum demokratischen Spektrum gehören und in einer Demokratie vertreten werden dürfen.

Meinungsfreiheit ist die Basis für Demokratie

Wenn wir die Demokratie ernst nehmen wollen, müssen wir auch die Meinungsfreiheit ernst nehmen. Letztere ist die Basis für Erstere, denn in einer funktionierenden Demokratie ist der Kampf um die öffentliche Meinung der zentrale Mechanismus.

Ein demokratischer Staat muss so organisiert sein, dass das Volk alle Meinungen hören und sich an politischen Diskussionen beteiligen kann. Die Bürger müssen frei sein, sich eine eigene Meinung zu allen gesellschaftlichen Fragen zu bilden, sich überzeugen zu lassen und andere zu überzeugen. Wer das diskursive Getümmel, den freien Fluss von Argument und Gegenargument kontrollieren oder steuern will, ist kein Demokrat.

Die Meinungsfreiheit ist zudem die Voraussetzung des gesellschaftlichen Fortschritts. Sie ist der zentrale Wert, auf dem die meisten Errungenschaften unserer relativ freiheitlichen und demokratischen Moderne beruhen. Ob Säkularismus, Republikanismus, Frauenwahlrecht oder die Abschaffung der Sklaverei: Meist waren es Außenseiter mit (für ihre Zeit) kontroversen, gar häretischen, Ansichten, die die Gesellschaft wirklich vorangebracht haben. Viele Gesellschaften und Kulturen haben sich so sehr verändert, dass jemand, der vor 200 Jahren gelebt hat, sie kaum wiedererkennen würde. Aber sie haben sich in den allermeisten Fällen nicht deshalb zum Positiven gewandelt, weil der Fortschritt „von oben“ verfügt oder aufgezwungen wurde (und dort, wo dies tatsächlich der Fall war, sind die „Fortschritte“ oft brüchig, siehe z. B. die post-kemalistische Türkei). Sozialer Fortschritt entsteht in der Regel deshalb, weil Millionen von Menschen im Laufe diskursiver Auseinandersetzungen davon überzeugt werden können, die Vorstellungen, mit denen sie aufgewachsen sind, zu hinterfragen. (…)

Echokammern und Filterblasen

Eine „Meinungsfreiheit“, bei der die Bürger nur noch in irgendwelchen Echokammern und Filterblasen ihre Meinung sagen können, bedeutet das Ende des öffentlichen Austausches von Ideen und Argumenten, und damit letztlich eine extreme Verarmung des demokratischen Lebens. (…)

[i] Kai Rogusch at al.: „Experimente statt Experten: Plädoyer für eine Wiederbelebung der Demokratie“, Novo Argumente Verlag, 2019, S. 9f


Kolja Zydatiss: Cancel Culture – Demokratie in Gefahr

Das Buch beleuchtet anhand vieler Beispiele die Entstehungsgeschichte des Phänomens, die enorme Bandbreite der betroffenen Personen und Lebensbereiche sowie die Vielfalt der Einschüchterungsmethoden: Es wird gezeigt, wie die Cancel Culture zu einer Atmosphäre der Angst beiträgt.

Kolja Zydatiss (geb. 1989) studierte Psychologie, Neurowissenschaft und Statistik. Seit 2016 arbeitet er mit wechselnden Aufgaben für verschiedene Online- und Printmedien, wie „Novo Argumente“ oder „Achse des Guten“. In Letzterem erscheint aktuell seine Kolumne „Der/die Ausgestoßene der Woche“, die sich mit aktuellen Fällen der Cancel Culture beschäftigt. Der Schwerpunkt seiner Arbeit als freier Autor ist die heutige doppelte Krise der Politik, in der weder die bürgerlichen Eliten noch „die Massen“ sonderlich vital erscheinen und eine neue, abgehobene „Expertenklasse“ den Status quo mehr schlecht als recht verwaltet.

Solibros Verlag Münster, 2021, 175 Seiten

Textlayout bearbeitet: chasqui

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