Bremen am Ende. Sterbebegleitung

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„In Bremen war es wieder am schlimmsten!“ Mit dem Satz des Moderators Felix Krömer begann die beliebte Sendung von Radio Bremen „buten un binnen“ am 11.12.2019. In dem dann folgenden Beitrag ging es um fehlende Lebensmittelkontrollen in Bremen. Das ist hier weniger wichtig. Pars pro toto. Ob im Bereich der Lebensmittelkontrollen oder in jedem anderen Lebensbereich – ich jedenfalls habe den Eindruck, der Satz „In Bremen war es wieder am schlimmsten!“ kennzeichnet, so sehe ich das mittlerweile, die Situation Bremens insgesamt. Nachgefragt: Man nenne mir einen Lebensbereich, in dem es in Bremen nicht abwärts geht. Ich sehe keinen. Man nenne mir ein einziges Ressort, das anständige Arbeit leistet. Ich sehe keins. (Vom mittlerweile üblich gewordenen Abstiegskampf der Fußballelf des Renommierclubs Werder Bremen wollen wir hier gar nicht erst reden!). „Früher, da war auch nicht alles besser!“. Diesen Satz hören wir immer wieder. Der Satz stimmt, aber es ging – jedenfalls in Friedenszeiten – mit Bremen immer aufwärts.

Nun scheint mir Bremen überhaupt am Ende zu sein. Sagt das nur ein alter Mann, der sieht, dass sein eigenes Bild von Bremen sich verändert? Das kann sein. Das spielt gewiss auch eine Rolle.

Denken heißt vergleichen. Vergleichen wir den jetzigen Zustand Bremens mit dem Zustand Bremens in der Vergangenheit und mit dem Zustand anderer Städte Deutschland und in aller Welt, dann scheint mir jedenfalls klar zu sein, dass Bremen künftig vielleicht als Marktplatz noch eine Rolle spielt, als Absatzgebiet und als Produktionsstätte von Unternehmen, die ihre Steuern woanders bezahlen, dass aber der Zustand der Straßen, der Kanalisation, der Schulen, der Bildung und der Sportstätten mittlerweile so marode ist, dass da kaum noch etwas zu parieren ist. Dass Erfindergeist, Handwerk, Handel und bürgerliches Denken diese Stadt wieder prägen werden, ist nicht zu erkennen.

Wie war dieser Abstieg Bremens möglich? Was hat sich an welcher entscheidenden Stelle seitdem geändert?

Ein Beispiel: Die Stadtgemeinde Bremen hat 569.352 Einwohner (2018). Dem Öffentlichen Dienst (ÖD) in Bremen gehören rund 40.000 Beamte und Angestellte an. Das müsste eigentlich ausreichen, um diese Stadt in Ordnung zu halten, zu hegen und zu pflegen und zu erneuern. Aber es fehlt an Personal an allen Ecken und Enden: in den Kitas, in den Schulen, in den Krankenhäusern, bei der Polizei, an den Gerichten und im Gesundheitsamt. So verlottert Bremen, erkennbar an der Zunahme von Müll und Verschandelung.

Wie war das früher? Schauen wir in die Vergangenheit Bremens zurück. Theodor Spitta (1873-1969) war Stellvertretender Bürgermeister Bremens 1920-1928, 1931-1933 und 1945-1955. Er schreibt in seinen Erinnerungen über den Öffentlichen Dienst in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg:

In der kärglich bezahlten Beamtenschaft gab es, besonders in den höheren Stellen, keine Begrenzung der täglichen Dienstzeit. Die eingegangenen Sachen mussten erledigt werden. Es herrschte noch der alte preußische Geist der Einfachheit, der Pflichttreue und der Unterordnung.

(Theodor Spitta: Aus meinem Leben. Bürger und Bürgermeister in Bremen. München 1969, S. 141).

Von diesem Geist ist nur noch wenig zu spüren. Ich vermute, dass die meisten der Beschäftigten im ÖD gar nicht wissen, wovon da die Rede ist. Und, wenn doch, vermuten die meisten von ihnen gewiss, weil da von „Preußen“ die Rede ist, das könne etwas Schlechtes sein. Etwas Schlimmes sogar. Kurz vor dem Faschismus.

Das war nicht immer so. Zur Erinnerung: Als unsere Generation in den Beamtenstand aufgenommen wurde, hatten wir zu versprechen, unseren Dienst „mit Hingabe“ auszuführen. Das mag immer noch auf vereinzelte Beamte und Angestellte zutreffen. Die meisten werden aber gar nicht mehr wissen, was dieser Begriff „Hingabe“ bedeutet. Der ÖD in Bremen führt ein Eigenleben fernab jeder transparenten Kontrolle. Es ist ein Staat im Staate, der sich immer wieder in groß aufgemachten „Projekten“ als „bürgernah“ präsentiert, sich aber in Wirklichkeit vom Bürger immer mehr entfernt und sich selbst vermehrt. Wir haben in Bremen genau das, was man als „Bürokratie“ bezeichnet. Der Bürger lässt das mit sich machen. Ein Beispiel: Bis vor vier Jahren konnte ich im Finanzamt mit meinem Sachbearbeiter sprechen. Seitdem gelange ich nur bis zu Zimmer 100. Da habe ich alles zu erklären und abzugeben. Das Schlimme daran ist: Die Bürger, die ich kenne, sind’s zufrieden. Tenor: „Das ist doch viel einfacher!“. Meine Erklärung dafür: Der Untertanengeist der meisten Bürger im heutigen Bremen ist wenigstens genauso stark wie der Untertanengeist ihrer Großeltern und Urgroßeltern zur Kaiserzeit.

Die oberste Instanz in einer Demokratie ist das Parlament. Bei uns in Bremen ist es die Bremische Bürgerschaft. Sie wählt den Senat, die oberste Instanz der Exekutive, geleitet von einer Bürgermeisterin oder einem Bürgermeister. Denken heißt vergleichen. Schauen wir also auf unsere gewählten Bürgermeister seit 1945: Wilhelm Kaisen (31. Juli 1945 bis 20. Juli 1965), Willy Dehnkamp (1965-1967), Hans Koschnick (1967-1985), Klaus Wedemeier (1985-1995), Henning Scherf (1995-2005), Jens Böhrnsen (2005-2015), Carsten Sieling (2015-2019) und Andreas Bovenschulte (seit August 2019). Die Kontinuität ist deutlich – alles Genossen. Ist da auch eine Entwicklung festzustellen? Ich meine, dass ja. Ich sehe eine absteigende Linie – von der Persönlichkeit zum Parteisoldaten. Das Ergebnis war entsprechend: Unter Wilhelm Kaisen und Willy Dehnkamp war Bremen in jeder Hinsicht ein vorbildliches Bundesland, sogar ein reiches Bundesland. Beginnend mit Hans Koschnick hat jeder Bürgermeister bis hin zu Carsten Sieling sein gerüttelt Maß Schuld daran, dass unser jetziger Senat handlungsunfähig ist und Bremen bei einem Etat von 4,5 Milliarden 21,5 Milliarden Schulden zurückzuzahlen hat. Wie das möglich sein soll, ist mir unklar.

(Über Andreas Bovenschulte ist noch kein Urteil zu fällen. Er war vorher Bürgermeister in Weyhe. Davon ist bisher nichts zu merken).

Verantwortlich für Bremens Misere in ihrem jeweiligen Ressort waren und sind die jeweiligen Senatorinnen und Senatoren. Sie kamen seit 1945 hauptsächlich aus der SPD, aber es waren zwischenzeitlich auch Mitglieder der FDP und der CDU. Seit zwölf Jahren koalieren die Grünen mit der SPD. Nach der Bürgerschaftswahl im Frühjahr 2019 ist auch die Partei DIE LINKE mit zwei Senatorinnen im Senat vertreten.

Der Senat ist die Regierung. Wieviel hat er zu sagen? Ich meine: fast nichts. Wie das, möchte man fragen. Es ist ganz einfach: Der Senat ist die Spitze der Exekutive, des ÖD. Die Zahl der Senatoren und Bürgermeister, die sich in ihren Ressorts auskannten, war denkbar gering. Das ist kein Versäumnis und Versagen, das liegt in der Natur der Sache. Zum einen werden auch die Aufgaben des ÖD immer komplexer, wird die Rechtslage immer schwieriger und die Zukunft immer unsicherer. Zum anderen nimmt die Zahl der Beamten und Angestellten im ÖD immer mehr zu. Der ÖD vermehrt sich automatisch; das war immer schon so und das weltweit. Da nützt es auch nur wenig, wenn man mit den Bremer Verhältnissen vertraut ist, was im Stadtstaat Bremen noch eher möglich ist als in einem Flächenland wie Niedersachsen. Das Einzige, worauf ein Senator bauen kann und muss, ist der Geist des ÖD, getragen von bürgerlichen Tugenden und Idealen. Allein, solcher Geist ist nur noch in Spurenelementen vorhanden. Statt dessen herrschen auch im kleinen und relativ übersichtlichen Bremen zunehmend der Geist der Bürokratie und der der Anarchie. Auf den Punkt gebracht: mir kommen die meisten Senatorinnen und Senatoren eher wie Sprecherinnen und Sprecher ihrer jeweiligen Behörde vor. Sie sagen in Versammlungen und vor der Kamera, was ihnen die leitenden Beamten dort aufgeschrieben haben.

Mit der Zeit kennen sie ihre Texte. Gewiss, das ist nicht nur in Bremen der Fall, Berlin z.B. ist noch schlimmer, aber das kann uns nicht trösten, zumal der Geist des ÖD schlichtweg gemordet wurde – durch das Personalvertretungsgesetz von 1978. Frage: Kennen Sie das? Kennen Sie seine Wirkung? Nein? Dann sage ich Ihnen in aller Kürze: Seit 1978 kann jemand, der im ÖD beschäftigt ist, ob Beamter oder Angestellter, so ziemlich tun und lassen, was ihm gefällt, ohne dass er groß Schaden erleidet. Einer der Parteien anzugehören, die sich sozial und links gerieren, ist einer Karriere im ÖD immer noch förderlich – SPD, GRÜNE und LINKE sind an der Macht und haben Posten zu verteilen. Ist gerade kein Job frei, wird mit dem nächsten Projekt eine ganze Latte davon installiert und besetzt. Sie haben klare Vorstellungen davon, was Linke Politik ist? Die sollten Sie tunlichst ablegen oder verstecken. Diese Parteien sind längst nicht mehr links, geschweige denn revolutionär.

Jörg Wollenberg spricht in diesem Zusammenhang von einem „`Strukturkonservativismus` in der (deutschen) Arbeiterbewegung“. Das war ein Thema, das auch den Philosophen, Schriftsteller und Publizisten Theodor Lessing (1872-1933) beschäftigte, der übrigens zu den ersten bekannten Opfern des Nationalsozialismus gehörte:

Der völlig zu Unrecht in Deutschland vergessene Sozialist und Pazifist Theodor Lessing hat zu den „konservativen Tendenzen” in der reformistischen Arbeiterbewegung schon 1930 konstatiert: „Fortschritt ist die Funktion der gefährdeten Minderheit. Das ist das Gesetz der Notwendigkeit, die im wörtlichen Sinne immer Wende einer Not ist. Fruchtbar wird immer nur die Not. Darum sagt Marx gelegentlich mit Spott auf die eigene Partei: ‚Wenn der Arbeiter auch nur ein Sparkassenbuch besitzt, dann ist er für die Revolution unbrauchbar.‘ Wir dürfen also durchaus nicht die gegenwärtige sozialdemokratische Partei mit Sozialismus gleichsetzen. Ja, wir dürfen nicht einmal voraussetzen, dass Sozialdemokratie identisch sei mit dem Proletariat. Die Sozialdemokratie vertritt lediglich die organisierte Arbeiterschaft, die in Gewerkschaften vereinigt ist. Dadurch aber, dass unsere Parteiführer zum größeren Teile Gewerkschaftsführer sind oder waren, ist der Konservativismus, ja ich sage ruhig, ist eine Untreue gegen das revolutionäre Ziel schon unvermeidlich. Es ist durchaus berechtigt und läßt sich wohl verstehen, dass kein Gewerkschaftsführer die Verantwortung tragen will, mehrere tausend Menschen brotlos und arbeitslos zu machen. Er hat die Pflicht, das Lohninteresse über das politische Ziel zu stellen. So wäre denn also die „positive Mitarbeit an dem staatlichen Wiederaufbau“ auch immer eine wirkliche Gefahr für den Sozialismus. Das haben die großen Begründer der sozialistischen Lehren ganz genau gewusst.

(Jörg Wollenberg: Mehr Demokratie mit Kultur und Bildung wagen. Ein kritischer Blick auf 100 Jahre VHS. Bremen 2019. S. 37).

Ein Blick zurück. Früher war ein Beamter (und nur ein Beamter) deswegen unkündbar, weil er notfalls, um Recht und Gesetz durchzusetzen, sich mit seinen Vorgesetzten anlegen musste. Gaben jene Anweisungen, von denen der Beamte der Meinung war, dass sie nicht in Ordnung waren, so hatte er den Vorgesetzten darauf aufmerksam zu machen, ohne dass ihm deswegen gekündigt wurde. Das war seine Pflicht. Er hatte, wie das hieß, „zu remonstrieren“. Ich kann mich allerdings nicht an einen einzige Fall erinnern, dass in Bremen irgendein Lehrer, ein Oberschulrat, ein Polizeibeamter, ein Feuerwehrmann, ein Verwaltungsbeamter oder ein Beamter im Bauressort jemals gegen Missstände und Unrecht remonstriert hätte. Da galt und gilt eindeutig ein anderes Prinzip: Wer sich anpasst und brav gehorcht, der wird in Ruhe gelassen und irgendwann sogar befördert – je nach Lage der Dinge. Das gilt selbst für Missstände und Ungerechtigkeiten, die eigentlich jemand, der sich das Soziale auf die Brust geschrieben hat, der „links“ ist, wie das in Bremen der Fall ist, längst hätte auf den Haken nehmen müssen. „Gleiche Arbeit, gleicher Lohn!“ Unter dieser Fahne kämpft Bremen für die Rechte der Frau. Darüber aber, dass im ach so sozialen Bremen immer noch Angestellte und Beamte im ÖD für dieselbe Arbeit ungleich entlohnt und in der Altersversorgung ungleich behandelt werden, redet kein Mensch. Das Thema ist tabu, selbst bei VER.DI und in der GEW.

Die Bürgermeister und Senatoren sind, wenn man so will, Beamte auf Zeit. Sie können jederzeit entlassen werden. Damit sie sich nicht an ihr Amt klammern, um versorgt zu sein, und dadurch ihre Unabhängigkeit im Urteil und im Handeln verlieren, werden sie sehr hoch bezahlt. Ich kann mich allerdings nicht daran erinnern, dass irgend ein Senator oder Bürgermeister sich mit seiner Partei angelegt hätte und eine eigenständige Position durchgehalten hätte, weil er sie für angemessen und vernünftig hielt. Das soll, hört man, bei der SPD noch in den achtziger oder gar in den neunziger Jahren der Fall gewesen sein. Da hätten, wie mir ein ehemaliger Genosse ausführlich erzählte, die Senatoren Angst gehabt, einen Parteitag zu besuchen in Sorge darum, dort herbe kritisiert zu werden.

Auch hier ist interessant, was Theodor Spitta in seinen Erinnerungen über die Rolle der Senatoren seiner Zeit schreibt:

Das Besondere in Bremen war, dass die Senatsmitglieder nicht an einer parteipolitischen Arbeit teilnahmen. Es war zwar nicht ausgeschlossen, dass die Senatoren einer politischen Partei angehörten; aber es gehörte sich nicht, dass sie in der Öffentlichkeit für eine Partei eintraten. Als Bürgerschaftsmitglied wusste ich nicht, ob ein Senatsmitglied einer Partei angehörte. Wenn ein Senator vor seiner Wahl in den Senat für eine politische Partei eingetreten war oder ihr als Mitglied angehört hatte, wie der Kaufmann Frese, der bremischer Reichstagsabgeordneter in der freisinnigen Vereinigung gewesen war, so hörte mit seiner Wahl in den Senat jede nach außen hervortretende parteipolitische Tätigkeit auf. Es gab im Senat auch keine Abstimmung nach Parteien. (Ebd., S. 231).

Theodor Spitta auf dem Balkon des Bremer Rathauses. Weihnachten 1945.
Bild: Ingwer Jürgensen.

Heute ist das Gegenteil der Fall. Im Senat, in der Bürgerschaft, im öffentlichen Dienst, in den Ortsbeiräten und sogar in der Bremer Seniorenvertretung herrscht derselbe Ungeist wie in ganz Bremen. In der gesamten Politik geht es nur noch selten um Sachfragen. Es geht um das Profil der Partei, um ihr Geschäftsmodell.

Artikel 83 der Brem. Landesverfassung besagt:

Die Mitglieder der Bürgerschaft sind Vertreter der ganzen bremischen Bevölkerung. Sie sind verpflichtet, die Gesetze zu beachten und haben eine besondere Treupflicht gegenüber der Freien Hansestadt Bremen. Im übrigen sind sie nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden.

Das war einmal. Heute ist nicht das Bürgerwohl von Bedeutung. Wer das im Sinn hat, gilt als „populistisch“. Dass ist etwas sehr, sehr Böses. Entscheidend in der bremischen Politik ist die Frage, welcher Partei derjenige Sprecher, Delegierte, Deputierte, Abgeordnete oder Senator angehört, der diese oder jene Äußerung getan oder diese oder jene Forderung erhoben hat. Gehört er nicht zu „richtigen“ Partei, das ist immer noch im Zweifelsfalle der SPD bzw. die von ihr geführte Koalition, stimmen die Vertreter der anderen Parteien dagegen. Mehrheitlich und ausnahmslos. Artikel 77 der Brem. Landesverfassung bestimmt in Absatz 3: „Ein Fraktionszwang ist unzulässig.“ Nimmt man diesen Artikel ernst, sind wenigstens 98% aller Beschlüsse der Bürgerschaft der letzten zehn Jahre ungültig, weil dagegen verstoßen wurde. Permanent, ohne Hemmungen, radikal. Um es mit Paul Watzlawick zu sagen: Die Beziehungsebene regiert die Inhaltsebene und das in einem Ausmaße, dass Persönlichkeiten in der Politik immer weniger zu finden sind. Das ist in ganz Deutschland der Fall. Hinzu kommt in Bremen: In kaum einer mir bekannten Stadt ist die Skepsis gegenüber jeder Art von Militär so groß wie in Bremen. Das hat seinen Preis. In kaum einer mir bekannten Stadt ist das Parteisoldatentum so ausgeprägt wie in Bremen. Das ist die Kehrseite der Medaille. In kaum einer mir bekannten Stadt ist auch die Aversion gegenüber Religionen, in erster Linie gegenüber dem Christentum, so stark ausgeprägt wie in Bremen. Auch das hat seinen Preis: Die Politik wird zur Ersatzreligion. Die herrschende Ideologie von Rot-Grün ist stärker als jede Vernunft.

Der Weser Kurier meldete am 11.12.2019:

Er war gar nicht da, und doch wurde gegen seinen abgesagten Auftritt in der Havanna Lounge demonstriert: Thilo Sarrazin, der streitbare Autor („Deutschland schafft sich ab“) und Rechtsausleger der SPD, brachte am Dienstag fast 500 Demonstranten eines linken Bündnisses auf die Straße.

Man fasst sich an den Kopf: Da wird gegen den Art. 15 der bremischen Landesverfassung und gegen den Art. 5 des Grundgesetzes schlicht verstoßen dadurch, dass man dem unbescholtenen Bürger Thilo Sarrazin, der in Bremen nur einen Vortrag halten wollte, den Zugang nach Bremen versperrt. Anstatt dass die Parteien, Fraktionen und der Senat eingreifen und dafür sorgen, dass die Meinungsfreiheit in Bremen garantiert bleibt, schweigen sie. Mehr noch: Sie finanzieren diese Gruppen über den Sozialetat unter der Rubrik „Proaktiv gegen rechts!“

Früher hätte ich dagegen argumentiert – ausgewogen, gründlich, ehrlich, so ganz voller Hoffnung, dass der eine oder andere Hinweis nützlich sein könnte, jetzt oder später. Diese Hoffnung, durch Aufklärung Abhilfe schaffen zu können, habe ich nicht mehr. Die „500 Demonstranten eines linken Bündnisses“ werden als staatstragend gefördert. In jeglicher Richtung.

Nein, ich argumentiere nicht mehr. Dieser Vorgang kam mir zunächst ganz läppisch vor, erschien mir zunächst eine Bagatelle zu sein, die ich besser vergessen sollte, bevor ich mich darüber ärgere. Mittlerweile sehe ich darin einen der vielen Vorboten, die darauf hindeuten, dass es mit Bremen, soweit es demokratisch strukturiert ist, zu Ende geht.

Das sind große Worte. Allein, ich fürchte, sie sind wahr.

Wohl jeder von uns weiß, wenn er über 60 ist, dass es uns sehr schwer fällt, jemandem beim Sterben zuzusehen oder ihn gar dabei zu begleiten. Mehr oder weniger, je nachdem, wie Liebe mit im Spiel ist. Man lernt das ja auch ein wenig, ob man will oder nicht.

Dieses Gefühl überkommt mich nun eben auch, wenn ich auf unser Bremen schaue. Jedenfalls mitunter. Ich tue mich schwer damit. Der Gedanke, in einer Stadt zu leben, die so offenkundig untergeht, wie das mit unserem lieben Bremen der Fall ist, ist uns ja völlig ungewohnt. Wir, geboren um 1945, haben ja den Zweiten Weltkrieg und die Bomben nicht mitbekommen. Damals zerstörten Explosionen die Stadt. Heute implodiert sie. Das geht ganz unauffällig vonstatten. Auch der andere Gedanke, Bremen sei noch zu retten, irgendwie, kommt in Wellen immer wieder, denn, das sagt uns der Verstand, anders als ein Mensch kann eine Stadt — theoretisch gesehen — ewig leben. So wehrt man sich gegen den Untergang, allein und mit anderen. Man kämpft dagegen an und tut und macht und hofft weiter. Zunächst mit Kraft, dann nur noch verdrossen. Aus Pflichtgefühl. Schließlich gibt man auf und verabschiedet sich innerlich von Bremen. Jedenfalls von dem Bremen, das man kennt.

Wie bei einem lieben Menschen.

Martin Korol, Bremen

Titelbild:
Valentine Godé-Darel am Tag vor ihrem Tod (Gemälde von Ferdinand Hodler, Januar 1915) / Wikipedia